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Friedhof für europäische Münzen: Seltene Einblicke in das Fort Knox am Hudson

Eimer, Tonnen und Säcke bis unters Dach – auf den ersten Blick sieht die Lagerhalle aus wie der Verkaufsraum eines Baumarktes. Doch beim genaueren Hinsehen fallen kuriose Details auf: Auf einer Palette stehen sechs Eimer mit Zwei-Pence-Münzen aus Gibraltar, ein paar Regale weiter sind jeweils drei Eimer mit Pfennigen aus Deutschland und Penniä aus Finnland gestapelt und in einem anderen Eimer schlummern rollenweise 50 Centimes aus Belgien. Gegenüber befindet sich ein weiteres Schwerlastregal mit hunderten länglichen Boxen, in denen griechische, ungarische oder georgische Umlaufmünzen liegen. Auf dem Weg durch die Lagerhalle sind immer wieder auch Holzkisten oder Säcke zu finden, auf denen die Namen von Zentralbanken zu lesen sind.

Etwa zwei Autostunden nördlich von New York steht in einem Industriegebiet neben einem Imkereibetrieb und einem Autoteilehändler eine unauffällige Fabrikhalle, die von Einheimischen liebevoll als „Fort Knox am Hudson“ bezeichnet wird. Mindestens genau so zutreffend wäre auch „Friedhof für europäische Münzen“ – ein Unternehmen aus dem kleinen Örtchen Highland hat es sich zur Aufgabe gemacht, Umlaufmünzen aus aller Welt zu horten. Über 300 Millionen Münzen befinden sich nach Firmenangaben im Lager der Educational Coin Company. Der Bestand ist so umfangreich, dass ein Teil der Lagermenge sogar in Frachtcontainern außerhalb des Gebäudes ausgelagert wurde.

Neben Münzen und Banknoten verkauft die Educational Coin Company vor allem die Geschichten rund um die numismatischen Schätze – und es ist kaum verwunderlich, dass auch die Mitarbeiter des Unternehmens bei ihrer Jagd nach neuen Münzgeschichten viele Abenteuer erlebt, die Besitzer David Laties mit sichtlicher Freude erzählt. Er blickt auf mehr als 70 Jahre als Münzenhändler zurück. Begonnen hat alles im Jahr 1959, als Laties mit einem Freund die Demonetarisierung des britischen Farthing als Geschäftsmodell entdeckte. Laties und sein Kompagnon kauften eine Million Exemplare für 25.000 US-Dollar, schalteten eine Anzeige in „Coin World“ – und die Farthings verkauften sich „wie verrückt“. Danach wurde Indien zum nächsten Betätigungsfeld für Laties: „Indien war eine Schatzkammer für Münzen in den sechziger Jahren. Man konnte dort beispielsweise Silber aus dem viktorianischen Zeitalter zum Metallpreis kaufen“, erinnert sich David Laties, der daraufhin zu einem regelmäßigen Gast in Indien wurde. Denn die Mitbringsel verkauften sich in den USA in Rekordzeit, sodass stets Nachschub besorgt werden musste.

Die Geschichte der „Educational Coin Company“ und das Lebenswerk von David Laties machen deutlich, worauf es im Münzhandel – unter anderem – ankommt: „Man muss aufmerksam sein und seine Richtung schnell anpassen können, neue Trends erkennen und reagieren“, sagt Laties. Denn der Münzenmarkt ist sehr volatil, Megatrends von heute können morgen bereits vergessen sein. Aus diesem Grund verbrachte David Laties einen beträchtlichen Teil der Siebziger Jahre an Bord von Flugzeugen, um – ausgestattet mit einem „Um die Welt“-Ticket der Fluggesellschaft „PAN-AM“ neue Ware zu beschaffen – von Kairo nach Beirut und weiter nach Teheran, von dort nach Bombay, Jakarta und über Hong Kong und Tokio zurück nach Hause.

Viele der Münzen und Banknoten, die sich bis heute im Bestand von David Laties befinden, haben auf den ersten Blick keinen besonderen Sammlerwert – hinter ihnen verstecken sich aber häufig Kuriositäten, so wie beispielsweise hinter den Zehn-Cent-Banknoten aus Indonesien. Heutzutage sind diese Scheine in fast jedem Weltbanknotenlot zu finden – und auch „ECC“ besaß zwischenzeitlich rund 60 Millionen Exemplare, welche in den siebziger Jahren von der Zentralbank in Jakarta aufgekauft wurden. 300.000 Stück davon wurden im Jahr 1996 von Gegnern des US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton für eine Kampagne vor der Wahl geordert, mit dem Schriftzug „Ticket to the White House“ versehen und an Anhänger versendet. Weitere 500.000 Stück liegen wohl bis heute irgendwo im Wasser vor New York – sie wurden im Hafen gestohlen, doch die Diebe konnten sie nicht weiterverkaufen: „Sie haben wohl bei diversen Händlern nachgefragt, doch alle hielten die Banknoten für Müll“, sagt David Laties lachend. Also versenkten die Räuber fünf Kisten mit jeweils 100.000 Banknoten, fein säuberlich konfektioniert in versiegelten Zinnkisten, im East River: „Die Banknoten sind womöglich bis heute in einem guten Zustand, also wer danach kaufen will, soll sich keinen Zwang antun“, bemerkt Laties augenzwinkend.

Inzwischen sind die Produkte der Educational Coin Company in aller Welt zu finden. Egal ob es sich um Themensets zu bestimmten Epochen, Ländern oder Herrschern handelt oder ob Münzen als Werbegeschenk oder Beilage einer Zeitschrift benötigt werden, das Unternehmen aus dem US-Bundesstaat New York will für alle erdenklichen Projekte mit numismatischem Fokus die passenden Bausteine parat haben. Daneben haben David Laties und sein Team ein Dropshipping-System entwickelt – die Ware, die von kleinen und großen Händlern überall in den USA angeboten wird, kommt eigentlich direkt aus Highland, New York.

Die Sammelwut des New Yorker Münzgroßhandels mag auf den ersten Blick abwegig klingen: „Unser Geschäftsmodell ist durchaus merkwürdig. Wir kaufen obskure Münzen in großen Mengen und es dauert für gewöhnlich sehr lange, sie zu verkaufen. Doch wenn man eine kritische Masse erreicht hat, kann man es profitabel machen. Die meisten Händler stürzen sich auf die seltenen, exotischsten, besten Münzen. Wir tun das Gegenteil“, bekräftigt David Laties. Und für viele Projekte ist das US-Unternehmen die einzige Anlaufstelle in der ganzen Welt – weil sich für bestimmte Sammelgebiete bis heute niemand außer David Laties interessiert hat, oder weil Massenware aus dem Lager durch währungspolitische Entscheidungen praktisch über Nacht zu einer modernen Rarität wird. Man denke nur an die Umlaufmünzen aus Europa, welche vor der Einführung des Euro rollenweise bei den Banken zu bekommen haben. Wer jetzt ein Europa-Münzenset mit Prägungen vor 2002 konfektionieren will, wird einen kräftigen Aufschlag auf den Nennwert zahlen müssen – und womöglich in einem Eimer fündig werden, der im Geldspeicher in Highland in der hintersten Ecke eines Schwerlastregals steht.

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Sebastian Wieschowski
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